Josef Reichart

Von heute auf morgen behindert
Am letzten Januartag im Jahr 1982 gründeten acht Männer den Club ’82. Die Idee dazu kam aber von einem einzigen: Josef Reichart.
Der Club wäre nicht entstanden ohne ihn– und ohne das, was dem „Sepp“ zwölf Jahre zuvor in grausamer Weise widerfahren war.
Hauptbahnhof Aschaffenburg, 7. Mai 1970
Josef sitzt auf einer Bank am Gleis und schlummert. Zu spät merkt er, dass der Zug ein- und auch schon wieder losgefahren ist. Als er aufwacht, rattern die Waggons schon wieder davon. Doch der 31jährige ist sportlich und mutig – und macht es so, wie er es auch immer als Jugendlicher mit seinen Freunden gemacht hat: Er springt auf den fahrenden Zug.
Doch diesmal gelingt es nicht. Josef rutscht ab, gerät zwischen Zug und Gleis. Ein furchtbares Unglück. Er wird in die Klinik eingeliefert. Ein Wunder, dass er überhaupt überlebt: Beide Beine sind amputiert, dazu beide Unterarme. Nur noch die Stümpfe sind da. „Wäre es nicht besser gewesen, wenn ich gestorben wäre?“ So denkt er wohl als er in Aschaffenburg im Krankenbett liegt und es gibt auch Stimmen die sagen: „Es wäre besser wenn er sterben würde“. Seinen Freund, der zum Krankenbesuch kommt, fragt er als erstes: „Warum hast Du mir keine geladene Pistole mitgebracht?“
Nach dem 7. Mai 1970 ist für Josef Reichart alles anders. Doch „Sepp“ ist ein zäher Bursche geblieben. Kindheit im Armenhaus, vier Brüder im Krieg gefallen, ein Bruder vermisst, der Vater tot. Er musste sich immer durchbeißen, hatte aber auch mannigfache Talente: Pfadfinder und Gewichtheber war er, Ringer, ein fabelhafter Schwimmer. Malen konnte er ebenso wie Streiche als Schüler schmieden – ein echter Lausbub eben. Was er anpackte, machte er mit Feuereifer, auch wenn er manches mit gleicher Entschiedenheit wieder abrupt beendete.
Und nun lag er hilflos im Krankenbett. Nicht einmal eine störende Fliege konnte er verscheuchen – mit was denn? Einen solchen Schnitt im Leben haben wohl die wenigsten erlebt.
Ein neues Leben beginnt
Doch als bemitleidenswerter Krüppel wollte Josef sein Leben nicht fortsetzen. Er nahm, nicht gleich, aber langsam, sein neues Leben in die Hand.
Schon während der Rehabilitation in Heidelberg begann er und beendete ein Studium der Betriebswirtschaft mit dem Diplom. Er lernte, sich selbst zu helfen, hatte aber auch gute Therapeuten auf seiner Seite. Er zog allein in eine eigene Wohnung. Er las und zeichnete Karikaturen. Er lernte, Auto ohne Beine zu fahren und reiste z.B. von Rom bis nach Mainaschaff – mit Pausen um nur zu tanken oder Kaffee zu trinken.
Er erfand einen prämierten faltbaren Kleinstrollstuhl oder einen Rollstuhlschnellläufer. Eine Wette, eine halbe Stunde lang ohne Unterbrechung zu schwimmen, gewann er. Er flog nach Südafrika, oder fuhr mit seinem E-Rolli so weit wie möglich auf Bergwandertouren mit oder durchquerte im Wohnwagen mit einem Freund den südamerikanischen Kontinent. Ein Tausendsassa.
Freilich ging das alles nicht von einem Tag auf den anderen: Sieben Jahre lang brauchte er, um mit dem Rollstuhl ohne eine Decke auf seinen (nicht vorhandenen) Beinen zu fahren, weil er nicht mit den mitleidigen Blicken zurecht kam. Und sicher wird auch er oft mit seinem Schicksal gehadert haben. Aber das hielt ihn nicht davon ab, sich für andere zu engagieren – zum Beispiel mit dem Club ’82, den er mit noch sieben Freunden und Bekannten 1982 mit eigenen Vorstellungen ins Leben rief.
Von 1982 bis 1983 und von 1986 bis 1987 war er auch Vorsitzender. Nach seinem Umzug nach Krautheim/Jagst setzte er sich bundesweit, im Bundesverband Selbsthilfe Körperbehinderter, für die Belange von Behinderten ein – und nahm vor Politikern und anderen Persönlichkeiten kein Blatt vor den Mund.
Nach seinem dritten Herzinfarkt starb er am 29. Juni 1996. Den Einzug in seinen behindertengerechten Bungalow konnte er nicht mehr erleben. Am 10. Juli 1996 wurde er in aller Stille auf dem Friedhof Klepsau beigesetzt. Man könnte auch sagen: in aller Bescheidenheit, so, wie er aufgewachsen war. „Du hast uns viel gegeben. Deine Bilder mögen in uns lebendig bleiben“, hieß es auf der Todesanzeige im Rundbrief 1996.
Dies soll keine Lebensbeschreibung und kein verspäteter Nachruf sein, sondern vielmehr ein Gedanke, aus dem der einzelne Kraft schöpfen kann. Vielleicht drückt sich in der Geschichte von „Joe“, wie er seine Karikaturen unterzeichnete, auch ein wenig die Gründungsidee des Clubs ’82 aus.
Michael Hofmann, Engelbert Stenger